Kennen sie das? Nach intensivem Studium zahlloser Testberichte und Forumsbeiträge haben sie sich für ein bestimmtes Teleobjektiv entschieden, das Sparbuch geplündert und halten ihr neues Traumobjektiv nun endlich in Händen. Aber anstatt der erhofften knackig scharfen Aufnahmen kamerascheuer Tiere oder sportlicher Rekordleistungen sind die ersten Ergebnisse doch eher weich bis unscharf. Was ist da los? Waren die Belichtungszeiten trotz Stativ zu lang? Taugt das Stativ nichts? Oder ist gar das neue Tele doch nicht so gut, wie gedacht?

Alles möglich, wahrscheinlicher ist aber, dass hier der in jeder Spiegelreflexkamera eingebaute Verwacklungsmechanismus sein Unwesen treibt: Die Schwingungen des unmittelbar vor der Aufnahme hochklappenden Spiegels.

DSLR = Kamera mit serienmäßig eingebauter Verwacklung

Bob Atkins veröffentlichte 1998 eine Abbildung die die gemessene Schwingungsamplitude eines hoch- und runterklappenden Spiegels zeigt. Bei einer Verschlusszeit von unter 1/15 Sekunde ist die Schwingung am stärksten und auch nach 1/4 Sekunde ist die Kamera noch immer nicht ausgeschwungen und ruhig.

Quelle: http://photo.net/photo/nature/mlu.html (verändert)

Das Verwacklungszeitfenster

Bob Atkins Grafik enthält eine ganze Reihe wichtiger Informationen. Die vom Spiegelschlag ausgelöste Schwingung hat eine bestimmte Frequenz und Dauer. Um zu Verhindern, dass diese Schwingung zu einer verwackelten Aufnahme führt, muss theoretisch lediglich der Belichtungszeitraum vermieden werden, in dem sich die Schwingung tatsächlich auswirkt. Bei sehr kurzen Belichtungszeiten entsteht dann keine Verwacklung, wenn die Amplitudenveränderung in dieser Zeit kaum vorhanden ist. Bei sehr langen Belichtungszeiten spielt die anfängliche Schwingung keine Rolle mehr, weil das System zur Ruhe kommt und der überwiegende Teil der Belichtung ohne Schwingung erfolgt.

Für Atkins Messung liegt der kritische Zeitraum bei weniger als 1/500 s und erheblich mehr als 1/4 s. Diese Werte sind jedoch spezifisch für jede Kamera-Objektiv-Stativ-Kombination und können nicht einfach verallgemeinert werden. Hier sollten sie eigene Versuche mit Belichtungsreihen machen und anschließend die Schärfe der Fotos beurteilen. Wer dieses Zeitfenster bei der Belichtung vermeidet, entgeht den Auswirkungen der serienmäßigen Verwacklungsautomatik.

Übertragung der Schwingungen des Spiegelschlags

Zunehmende Verwacklung bei längerer Brennweite

Die obige Abbildung illustriert die Übertragung der Schwingungen des Spiegels auf das gesamte System aus Kamera und Objektiv. Je länger der Abstand zwischen Fixpunkt und Kameragehäuse, desto größer ist auch der Hebel (blau) und damit das resultierende Drehmoment. Bei langen Teleobjektiven, die mit einer eigenen Halterung direkt auf dem Stativ montiert werden, sind die Verhältnisse am ungünstigsten. In jedem Fall wirken die Schwingungskräfte nahezu senkrecht auf das Gesamtsystem und so kann die geringe Masse des Spiegels durch den langen Hebel große Schwingungsamplituden von Objektiv und Kamera erzeugen – und damit entsprechend starke Verwacklung.
Die Abbildung macht ebenfalls deutlich, dass auch ein noch so stabiles und schweres Stativ diesen Effekt nicht gänzlich verhindern kann. Lediglich Verstrebungen, die direkt zwischen Objektiv und Stativbeinen oder gar dem Boden angebracht sind, können die Schwingungen effektiv vermindern.

Spiegelvorauslösung – Besser geht’s nicht

Da der Spiegelschlag bei einer SLR nunmal unvermeidlich ist, haben die Ingenieure schon vor Jahrzehnten Abhilfe ersonnen: Die Spiegelvorauslösung. Spiegelschlag und Belichtung werden dabei zeitlich von einander getrennt. Entweder, indem der Auslöser zweimal betätigt werden muss, oder indem zwischen hochklappen des Spiegels und Aufnahme automatisch eine ausreichende Verzögerung eingebaut wird. Die meisten höherwertigen DSLR’s verfügen über eine solche SVA, und um es gleich ganz deutlich zu sagen: Für wirklich scharfe Fotos ist diese Funktion unverzichtbar!

Testbilder zur Auswirkung der Spiegelvorauslösung: Belichtungszeit 1/15 s

Testbilder einer Backsteinmauer mit und ohne Spiegelvorauslösung (SVA). Bei einer Belichtungszeit von 1/15 s vermindert die SVA deutlich die Verwacklungsunschärfe. Bei einer Belichtungszeit von 1/60 s führt der Spiegelschlag hingegen zu keiner sichtbaren Verwacklung. Die geringere Schärfe der oberen Aufnahme ist auf Beugungseffekte an der sehr kleinen Blendenöffnung (f29) zurückzuführen. Ausschnitte in Originalauflösung und Selektiver Scharfzeichnung in Photoshop mit 145% bei 0,3 Pixeln Durchmesser.

Für die Praxis bedeutet das eine völlig andere Arbeitsweise, als sie den meisten wohl zu eigen sein dürfte. In der Regel steht die Kamera nun auf einem Stativ. Und jede Aufnahme verlangt jetzt deutlich mehr Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Denn wenn zwischen Spiegelvorauslösung und eigentlicher Aufnahme mehrere Sekunden Zeitverzögerung liegen, dürfen Motivlage und Schärfe sich in dieser Zeit selbstverständlich auf keinen Fall verändern.
Damit werden aber auch die Grenzen der Spiegelvorauslösung deutlich. Sich bewegende Motive können so nicht aufgenommen werden.

Belichtungszeit und Bildstabilisatoren

Bildstabilisatoren können einen Teil der Objektivbewegungen kompensieren. Die meisten Hersteller sprechen von einem Zugewinn von bis zu 3 Blendenstufen. Hier lohnt nun aber ein Blick auf die Funktionsweise. Bildstabilisatoren kompensieren nämlich Bewegungen, die sie zuvor analysiert haben!
Wer aus der Hand fotografiert wackelt mit einer gewissen Regelmäßigkeit, da die schwingungsbestimmenden Massen und Hebel im wesentlichen konstant bleiben. Eine Analyse dieser Bewegungen führt deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass die daraus berechneten Kompensationsbewegungen der Linsen im Objektiv auch nach einer gewissen Zeit noch wirksam sind.
Die Schwingungen des Spiegelschlags treten aber ausschließlich während der Belichtung auf. Für zeitversetzte Kompensation ist es da leider schon zu spät. Nikon verspricht zwar in seinen Erläuterungen zum eigenen System der Bildstabilisierung (VR), dass auch die Vibrationen des Spiegelschlags vermindert werden können (VR – Vibration-Reduction). Meine eigenen Testergebnisse konnten das jedoch nicht bestätigen.

Testergebnisse

Um herauszufinden, in welchem Zeitfenster sich der Spiegelschlag ungünstig auf die Bildschärfe auswirkt, werden Belichtungsreihen einer Backsteinmauer aufgenommen und die Abbildungsschärfe optisch beurteilt. Es kommen vier verschiedene Objektive bzw. Objektivkombinationen zum Einsatz. Die Kamera-Objektiv-Kombination steht auf einem Stativ (Manfrotto Wildernesss 190XWNB mit Kugelkopf 352 und Wechselplatte PL200).

Sigma 50-500mm f4-6,3 EX APO DG HSM @ 500mm

Zeit in s Blende Schärfe ohne SVA Schärfe mit SVA
1/15 14 – – –
1/40 8 – –
1/320 6,3
1/500 6,3

Nikon AF-S 70-300mm f4,5-5,6G VR

Zeit in s Blende Schärfe ohne SVA Schärfe mit SVA
1/15 18 – – – +
1/60 8 – – +
1/125 8 + +
1/250 8 + +
1/320 5,6 + +
1/640 5,6 + +

Nikon AF-S 300mm f/4 IF-ED

Zeit in s Blende Schärfe ohne SVA Schärfe mit SVA
1/15 29 – – – + *
1/20 22 + ++
1/40 16 ++ ++
1/60 11 ++ ++
1/125 8 ++ ++

Nikon AF-S 300mm f/4 IF-ED + Nikon TC-14 E II (420mm)

Zeit in s Blende Schärfe ohne SVA Schärfe mit SVA
1/3 32 – – + *
1/4 29 – – – + *
1/6 22 – – – ++
1/13 16 – – – ++
1/20 29 – – – + *
1/30 29 + + *
1/50 22 + + *
1/100 16 ++ ++
1/200 11 ++ ++

*) verminderte Schärfe aufgrund von Beugungseffekten an sehr kleiner Blendenöffnung

Für das Nikon AF-S 300mm beginnt der sichtbare Schärfeverlust durch Spiegelschlag bei Zeiten länger als 1/40 s bzw. 1/100 s mit Telekonverter. Bei 1/3 s beginnt die Verwacklung wieder etwas zurückzugehen. Beim Nikon AF-S 70-300 mm VR beginnt die Verwacklung bereits bei Zeiten länger als 1/125 s, und zwar trotz Bildstabilisator.

Fazit

Die optischen Leistungen ihres neuen Teleobjektivs kommen nur dann voll zur Geltung, wenn sie entweder die Belichtungszeiten meiden, bei denen der Spiegelschlag zu einer Verwacklung führt, oder bei allen geeigneten Motiven konsequent mit Stativ und Spiegelvorauslösung arbeiten. Um das Zeitfenster der Verwacklung durch Spiegelschlag herauszufinden, benötigen sie eigene Testreihen mit ihrer individuellen Objektiv-Kamera-Stativ-Kombination.

 

8. Oktober 2010 | Blog, Fotografie, Tutorial | 22.260 views

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