Die Wespenspinne (Argiope bruenichi) ist eine der größten heimischen Spinnenarten. Noch vor zwanzig Jahren war ihr Vorkommen auf einige wärmere Regionen Süddeutschlands beschränkt, im Zuge des Klimawandels kommt sie aber mittlerweile in ganz Deutschland vor. Das Weibchen baut ihr Netz in geeigneter Vegetation etwa 30 bis 70 cm über dem Boden und bevorzugt dabei entweder Feuchtgebiete oder, im Gegenteil, trockene Wiesen. Das Netz ist leicht zu erkennen, denn in der Mitte ist häufig ein dichtes Zick-Zack-Band eingewebt, das sogenannte Stabiliment. Im Zentrum sitzt dann das Weibchen mit dem Kopf nach unten und wartet geduldig auf das nächste Opfer.

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Abgesehen von der auffälligen Färbung des Hinterleibs in Schwarz und Gelb beeindruckt mich vor allem die kräftige Statur. Der ganze Körper wirkt drahtig und muskulös, die Beine sind lang und kräftig, kaum behaart aber mit Dornen besetzt. Die Augen heben sich groß und schwarz vom hellen Vorderkörper ab – eine perfekte Jagdmaschine!

Und genau das will ich filmen: wie eine Wespenspinne in ihrem Netz ihre Beute fängt, überwältigt, tötet und als Nahrungsvorrat einspinnt. Formatfüllend eingefangen ist das mit Sicherheit nichts für schwache Nerven – und schon gar nichts für Naturromantiker.

Aufnahmetechnik

Die Ausrüstung für dieses Vorhaben ist einfach: eine achromatische Nahlinse mit +3 Dioptrin wird vor die Kameraoptik geschraubt und schon kann ich formatfüllende Aufnahmen vom Spinnenkopf machen. Wichtig ist noch die Wahl der Blende. Hier braucht es einen Kompromiss zwischen geringer Schärfentiefe, um den Hintergrund möglichst unscharf und ruhig abzubilden, und genügend Spielraum für die Bewegungen des Netzes senkrecht zur Objektivachse. Das Netz bewegt sich nämlich im Wind und die Bewegungen von Beute und Spinne versetzen es zusätzlich in Schwingung. Ich verlasse mich auf den Autofokus der Kamera, schalte aber natürlich die Infrarot-Entfernungsmessung ab, da diese in Kombination mit der Nahlinse nicht funktioniert. Abblendung und Autofokus zusammen liefern dann tatsächlich ein überzeugend scharfes Ergebnis.

Auch ein passendes Tier ist schnell gefunden. Im Uferbereich eines Weihers inmitten einer Wiese im Göttinger Wald finden sich im Sommer regelmäßig zahlreiche Netze mit lauernden Spinnen. Ich brauche also nur meine Kamera aufzubauen, in aller Ruhe einzurichten, und zu warten.

Eingreifen oder nicht – Die reine Lehre der Naturdokumentation

Wer nun meint, bei den im warmem Sommerwetter überall herumschwirrenden Insekten dürfte es nicht lange dauern, bis sich eine bemitleidenswerte Heuschrecke im Netz der Wespenspinne verfängt, irrt gewaltig. Insekten sind alles andere als dumm und sie verfügen über Sinnesapparate, von denen wir nur träumen können. Ein Spinnennetz inmitten von Binsen am Ufer eines Weihers ist für die meisten potenziellen Beutetiere ebenso gut zu erkennen, wie für uns das Brandenburger Tor am Ende von Berlins Prachtstraße Unter den Linden. Ich habe also zwei Möglichkeiten: geduldig warten und dabei auf keinen Fall in meiner Konzentration nachlassen, denn sobald sich ein Insekt im Netz verfängt, geht es um Sekunden – oder dem Glück etwas nachhelfen.

Vorderkörper und Augen der Wespenspinne

Mit dem Kopf nach unten lauert die Wespenspinne auf Beute

Ich entschließe mich etwas zu tun, was unter Naturfilmern zwar offiziell als absolut verpönt, ja geradezu verwerflich gilt, in der Praxis aber dennoch ständig getan wird: Ich gehe selbst auf Insektenfang, um meine Beute dann gezielt ins Netz der Spinne zu werfen.

Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Entscheidung das Prinzip der reinen Dokumentation zu verletzen will gut überlegt sein. Authentische Aufnahmen von Tieren und ihrem Verhalten sind in der Regel nur möglich, wenn ich als Filmer oder Fotograf das Tier nicht störe, in der Regel also unsichtbar bin und keinerlei Einfluss ausübe. Es gibt Kollegen und Kolleginnen die diese Maxime zu hundert Prozent befolgen – und sie verdienen großen Respekt. Denn als Konsequenz dieser Haltung verzichten sie bewusst und von vornherein auf eine ganze Reihe möglicher Aufnahmen. Die meisten Naturfilmer und -Fotografen entscheiden sich deshalb für eine nicht ganz so konsequente Haltung und wägen im Einzelfall ab. Wildtiere mit selbst ausgelegtem Futter an bestimmte Orte zu locken um sie dann aus einem gut getarnten Versteck heraus aufnehmen zu können, ist vermutlich die beliebteste Methode Einfluss zu nehmen.

Im Fall der Wespenspinne halte ich meine Entscheidung für unproblematisch. Die Spinne reagiert nicht im Geringsten auf meine Anwesenheit und die in knapp 50 cm Entfernung aufgebaute Kamera. Und es ist ihr völlig egal, ob ein Beutetier von selbst in ihr Netz fliegt, oder ob es von mir hineingeworfen wird. Ich befinde mich außerhalb ihres Wahrnehmungshorizonts.

Nun könnte man rein ethisch argumentieren und anführen, dass ich ja immerhin ein anderes Tier fange und an die Spinne verfüttere. Ein Tier, dass von selbst wahrscheinlich gar nicht ins Netz gegangen wäre. Aus Sicht des Opfers ist das nichts anderes als Mord. Diese Sichtweise ist mir nicht fremd. Aber auch die Wespenspinne hat ein Recht auf Leben und auf unserem Planeten sind lediglich die zu Photosynthese befähigten Pflanzen in der glücklichen Lage, für die eigene Ernährung keine anderen Lebewesen töten zu müssen. Wenn ich nun ein anderes Tier vorzeitig an die Spinne verfüttere bedeutet das gleichzeitig, dass dieses Tier wiederum selbst keine Beute mehr machen kann. All diesen zukünftigen Opfern rette ich dann doch wohl das Leben. Ethik kann ganz schön verwirrend sein.

Der reine Horror

Mein erster Versuch endet kläglich. Der von mir mit einem kleinen Kescher gefangene Grashüpfer springt einfach durch die weiten Maschen des Spinnennetzes hindurch und überlebt meine Intervention schadlos. Ich brauche also ein größeres Insekt.

Ohne größere Schwierigkeiten fange ich eine der zahllosen Binsenjungfern, die in der Ufervegetation zu finden sind. Jetzt kommt es auf das Timing an, denn sobald die Libelle im Netz zappelt, wird sich die Wespenspinne auf sie stürzen und ich habe dann nur wenige Sekunden Zeit Ausschnitt und Schärfe nachzuregeln, bevor alles vorbei ist. Zur Vorbereitung mache ich ein paar Probeaufnahmen um Zoom- und Schwenkgeschwindigkeit einzutunen, dann setze ich die gefangene Libelle bei laufender Kamera vorsichtig ins Spinnennetz.

Gemeine Binsenjungfer eingewickelt im Netz einer Wespenspinne

Gemeine Binsenjungfer eingewickelt im Netz einer Wespenspinne

Der Versuch gelingt. Blitzschnell verlässt das Spinnenweibchen seine Lauerstellung in der Mitte des Netzes, ergreift die zappelnde Libelle und spinnt sie ein. Schon nach 10 Sekunden ist der Hauptteil gelaufen. Was die Wespenspinne dabei genau tut, sehe ich selbst erst später anhand des in Zeitlupe aufbereiteten Videomaterials. Die Libelle, in der Luft selbst ein gefräßiger Räuber, hat nicht die geringste Chance zu entkommen, haushoch ist ihr die Spinne an Kraft und Schnelligkeit überlegen. Mit den Hinterbeinen wird fächerförmig aus den Spinndrüsen austretende Spinnseide um die Libelle gewickelt, während die Vorderbeine deren Körper drehen und in Position bringen. Es dauert nur wenige Sekunden, bis die Libelle so eng verschnürt ist, dass sie sich kaum noch bewegen kann. Erst jetzt beißt die Spinne zu und injiziert ihr Gift in den Libellenkörper. Sie wählt dazu den häutigen Übergang zwischen Kopf und Thorax. Danach kehrt die Spinne zunächst zur Netzmitte zurück.

Das Gift wirkt nicht sofort und die Libelle bewegt sich weiterhin, als wollte sie noch nicht aufgeben und versuchen ihre Fesseln zu sprengen. Noch einmal kehrt die Spinne zurück und wiederholt den gesamten Vorgang aus Einspinnen und Giftinjektion.

Danach bewegt sich die Libelle zwar immer noch, die Spinne scheint sich aber nun sicher, dass ihre Beute sicher verpackt ist und wartet in der Mitte ihres Netzes auf das nächste Opfer. Das Gift wird nun langsam die Weichteile im Innern des Libellenkörpers auflösen, so dass die Spinne zu einem späteren Zeitpunkt den flüssigen Nahrungsbrei aussaugen kann.

Für viele ist diese kleine Naturdokumentation sicher der reinste Horrorfilm. Aber anders als Tolkiens Kankra, von Peter Jackson eindrucksvoll in Szene gesetzt, ist die Wespenspinne real und im Reich der Insekten ein Monster, das seines gleichen sucht. Der wirkliche Horror findet direkt vor unserer Haustür statt, in der auf den ersten Blick so romantisch wirkenden Natur am Ufer eines lauschigen Teichs inmitten einer Waldlichtung.

 

10. August 2010 | Blog, Fotografie, Videoproduktion, Werkstattbuch | 9.558 views

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