Wer im Frühjahr 2010 mit dem Boot auf der Werra unterwegs ist, kann nördlich von Eisenach zwischen Mihla und Treffurt eine erstaunliche Beobachtung machen. Ein beliebter Übernachtungsplatz ist der Landgasthof Probstei Zella mit Unterkunft und Zeltplatz direkt am Fluss. Und dort, in gerade mal zwei Metern Entfernung von der befestigten Einsatzstelle für Wasserwanderer, hat ein Schwanenpaar sein Nest gebaut. Täglich ziehen hier Dutzende erlebnishungriger Menschen ihre Kanus und Kajaks aus dem Wasser oder starten zur nächsten Tour auf der Werra – die Höckerschwäne stört es nicht. Ruhig sitzt das Weibchen auf seinen Eiern, zupft hier und da an einem Halm und schaut sich das lärmende Treiben direkt vor dem eigenen Schnabel mehr oder weniger interessiert an. Das Männchen schwimmt in der Nähe, taucht nach Wasserpflanzen und kommt ab und zu näher um vielleicht in den Genuss von ein paar Brotresten zu kommen. Die Menschen beobachten ihrerseits die brütenden Schwäne – wer hat auch je ein Schwanennest aus solcher Nähe gesehen – lassen sie ansonsten aber in Ruhe.

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Schutzzone von wenigen Metern

Terrasse Restaurant Graf Isang, Seeburger See

Terrassen des Graf Isang am Seeburger See. Haubentaucher und Bläßralle bauen ihre Nester nur wenige Meter entfernt vom belebten Uferweg.

Ein paar Wochen später bin ich am Seeburger See östlich von Göttingen. Am Nordufer liegt das Hotel und Restaurant Graf Isang. Die großzügigen Terrassen bieten Platz für mehrere hundert Gäste, grenzen direkt an das Seeufer und sind bei schönem Wetter voll bis zum letzten Platz. Daneben Bootsverleih, Minigolf und ein Naturschwimmbad. Die Uferzone selbst ist naturnah, mit Schilfgürtel, Flachwasserzone und Seerosenteppich. Ein fester Steg führt mitten hindurch etwa 15 Meter in den See hinaus. Im lockeren Schilfbestand haben drei Haubentaucherpaare ihre Nester gebaut, dazwischen nistet ein Paar Bläßrallen. Vier Küken sind geschlüpft und schwimmen zusammen mit einem Altvogel zwischen Schilf und Seerosen hin und her. Die Entfernung zwischen dem befestigten Uferweg entlang der Restaurant-Terrassen und den Nestern beträgt etwa 6 Meter! Ich kann mich also in aller Ruhe am Rand des Weges niederlassen und mit einem 300 mm Objektiv formatfüllende Aufnahmen von Bläßrallenküken beim schwimmen, putzen und fressen machen. Sogar eine Bisamratte schwimmt vorbei, im Maul Pflanzenmaterial. Haubentaucher holen sich Nistmaterial aus dem Schilf. Natur pur in unmittelbarer Nachbarschaft eines lärmenden Ausflugslokals und interessiert beobachtender Spaziergänger.

Jogger flüchten vor Graugänsen

Es kommt noch besser. Der Kiessee ist ein beliebtes Naherholungsgebiet am südlichen Stadtrand von Göttingen. Direkt am Ufer führt ein Weg um das gesamte Gewässer. Hier drängeln sich morgens und abends die Jogger, Spaziergänger flanieren, Hunde werden ausgeführt, Radfahrer umrunden den See.

Jogger und Graugänse, 074_6360

Graugänse und ihre Küken lassen sich von Joggern nicht stören.

In diesem Frühjahr hat ein Verband von 6 Grauganspaaren am Kiessee gebrütet, etwa 10 Küken sind geschlüpft. In aller Seelenruhe führen die Altvögel ihre Küken zum Grasen über den befestigten Uferweg auf die dahinter liegende Wiese. Spaziergänger und Jogger werden ab und zu angefaucht, im großen und ganzen aber einfach ignoriert. Die Küken sitzen manchmal sogar auf dem von der Sonne gewärmten Weg, ruhen sich aus und lassen sich von den vorbeigehenden Menschen nicht stören. Manch Jogger ist von dem ungewohnten Anblick so verunsichert, dass er innehält und die Gänse in weitem Bogen umläuft. Andere kennen die Gewohnheiten der Tiere schon und laufen einfach weiter. Einzig Hunde lassen die Gänse aufschrecken. Von den aufmerksamen Tieren schon von weitem erkannt, watschelt die Gruppe samt Küken gemächlich ins Wasser, wartet in Ufernähe ab, bis die Gefahr vorbeigezogen ist und kommt dann zurück auf die Wiese.

Auch hier kann ich Foto- und Videoaufnahmen von Küken und Alttieren aus weniger als 2 Metern Entfernung machen, ohne das die Gänse auch nur die geringsten Anzeichen von Beunruhigung zeigen.

Anpassung durch Begegnung

Bläßralle, Küken, naturschutz_074_6658

Bläßralle, Küken, aufgenommen aus ca. 2 Meter Entfernung vom befestigten Uferweg.

Wie kommt es das wildlebende Tiere plötzlich so wenig Scheu vor uns Menschen zeigen? Als Naturfotograf bin ich es viel eher gewohnt gut getarnt und mit langem Teleobjektiv auf der Lauer zu liegen und mich schon wie ein Schneekönig zu freuen, wenn ich ein Tier mal in 30 Meter Entfernung zu Gesicht bekomme. Sind die Tiere aus meinen Beobachtungsbeispielen vielleicht einfach besonders leichtsinnige, ja tollkühne Exemplare?

Ich glaube nicht.

Diese Tiere haben einfach gelernt, dass sie die von ihnen ausgewählten Brut- und Futterplätze gefahrlos nutzen können. Zwar halten sich ständig Menschen in unmittelbarer Nähe auf, diese Menschen sind aber weder Beutegreifer, noch Nesträuber, noch sonst in irgend einer Weise gefährlich. Sie mögen zwar lästig sein, sind im Grunde aber harmlos.

Tieren die das erkennen, erschließen sich in einer Landschaft die nahezu vollständig von Menschen besiedelt, genutzt und geprägt ist, neue Lebensräume. Sie sind nicht länger auf die wenigen Inseln relativ unberührter Natur angewiesen, sondern finden geeignete Biotope sogar inmitten unserer Städte.

Diese Anpassung ist aber nicht nur eine Chance, sie ist für wildlebende Tiere schlichte Notwendigkeit. Naturschutzgebiete machen in Deutschland weniger als 2% der Fläche aus. Sie sind umgeben von Siedlungen, Landwirtschaft und Industriegebieten, durchzogen von Straßen und betroffen von Umweltverschmutzung und Lärm. Tiere die die Begegnung mit Menschen völlig vermeiden wollen, Fluchtdistanzen von mehreren hundert Metern aufweisen und ihre Jungen nur weit ab jeder möglichen Störung aufziehen, finden in Mitteleuropa so gut wie keinen Lebensraum mehr. Nur die Tiere, die sich in die Nähe des Menschen wagen, können hier noch überleben. Und es ist ein praktisch allen Tieren gemeinsames Verhaltensmuster, die Grenzen zwischen tatsächlicher Bedrohung und tolerierbarer Nähe immer wieder auszutesten. Jede Flucht kostet Energie. Jedes Sichern und Innehalten beim Fressen verringert die aufgenommene Nahrungsmenge. Jedes Verlassen des Nests birgt Gefahren für den Nachwuchs in Form von Unterkühlung oder fehlendem Schutz vor Beutegreifern. Tiere die gelernt haben, dass schon zwei Meter Wasserfläche genügen, Menschen zuverlässig von weiterer Annäherung an das Nest, die Küken oder sich selbst abzuhalten, haben größere Überlebens- und Fortpflanzungschancen, als solche die sich ständig stören lassen.

Kraniche beim fressen

Kraniche beim fressen auf einer Ablenkungsfütterungsfläche.

Und nahezu alle Tiere sind lernfähig, wie ein letztes Beispiel zeigen soll. An der Boddenküste Nordvorpommerns wurden für die hier in jedem Frühjahr und Herbst zu Tausenden rastenden Kraniche besondere Flächen eingerichtet, auf denen Futtermais ausgebracht wird. So soll vermieden werden, dass die Tiere das Saatgut der umliegenden Äcker vertilgen und die Bauern Ernteeinbußen erleiden. Diese „Ablenkungsfütterungsflächen“ werden von den Kranichen gut angenommen, und das hat sich auch bei Vogelliebhabern und Naturfotografen herumgesprochen. Neben den Flächen wurden Parkplätze und Beobachtungsstände eingerichtet und zu den Rastzeiten sind diese Plätze häufig voll belegt. Die Kraniche auf der Fütterungsfläche kennen nun mittlerweile genau die Grenzen des Parkplatzes. Solange sich Beobachter mit ihren Spektiven und Teleobjektiven innerhalb der Grenzen aufhalten, wagen sich die Tiere bis auf 30 Meter heran. Übertritt nur ein einziger Mensch die Grenze, ziehen sich die Tiere sofort zurück oder fliegen gar auf.

Im Müritz-Nationalpark war es mir hingegen im Herbst 2009 nicht möglich Kraniche aus weniger als 200 Metern Entfernung zu beobachten. Wurden vorbeifahrende Autos von den auf einer Ackerfläche stehenden Tieren noch toleriert, reichte es schon anzuhalten, um die Tiere aufzuschrecken. Und selbst 200 Meter entfernt stehende Kraniche flogen auf, wenn ich gar aus dem Auto stieg.

Begegnung statt Abschirmung

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen erscheint es mir doch sehr fraglich, ob Artenschutzprogramme die auf einer strikten Abschirmung vor dem Menschen beruhen, langfristig erfolgreich sein können. Dort wo in Deutschland Seeadler brüten wird ein Betretungsverbot in weitem Umkreis verhängt. Eine solche Maßnahme ist sicherlich absolut notwendig wenn bei einer Restpopulation von wenigen Tieren jedes erfolgreich aufgezogene Küken den Bestand sichert. Bei einer weniger gefährdeten Population verhindert eine solche Isolation aber die Erfahrung, dass die Begegnung mit Menschen nicht gleichbedeutend mit Gefahr ist. In unserer Landschaft ist die Anpassung an die Nähe von Menschen, ihre Siedlungen und Aktivitäten, aber eine unverzichtbare Voraussetzung für das dauerhafte Überleben aller wildlebenden Tierarten. Diese Anpassung vollzieht sich aber nur dort, wo Tiere Menschen als normalen und selbstverständlichen Bestandteil ihrer Umwelt erleben. Sobald die lokale Bestandssituation es zulässt, sollte deshalb die radikale Isolation aufgehoben werden.

So hat Fritz Pölking für den Fischadler aufgrund ähnlicher Überlegungen die Einrichtung künstlicher Nisthilfen in der Nähe von Orten, Wegen und Deichen vorgeschlagen (www.poelking.com/wbuch2/hilfeosprey/hilfeospray.htm). Letztlich würde ich aber erwarten, dass jedes geeignete Biotop irgendwann auch besiedelt wird, unabhängig von der Nähe zum Menschen. Wir müssen die Tiere nur kommen lassen und nicht sofort nach radikalen Schutzmassnahmen rufen, wenn einmal ein bis dahin seltener Gast in ungewohnter Nachbarschaft seine Jungen aufzieht.

 

18. Juni 2010 | Blog, Fotografie, Videoproduktion, Werkstattbuch | 5.489 views

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