Erst neulich wieder wurde ich bei einem Fotoauftrag gefragt, ob ich denn die Bilder so verwende, wie sie aufgenommen werden – die echten, wirklichkeitsgetreuen Fotos also – oder ob ich sie digital nachbearbeite und dadurch verändere und künstlich besser mache. Mit meiner Antwort: „Jedes Bild wird von mir digital entwickelt und ausgearbeitet“ konnte die Fragestellerin leider nicht viel anfangen. Kein Wunder, berührt die Frage doch gleichermaßen technische wie philosophische Grundlagen der Fotografie an sich. Und die verständlich zu erläutern war am Set schlicht keine Zeit. Ich möchte versuchen das an dieser Stelle nachzuholen.

Ein Foto bildet niemals die Wirklichkeit ab

Keine Zeichnung und kein Gemälde, so handwerklich perfekt sie auch ausgeführt sein mögen, erreichen eine ähnlich motivgetreue Abbildung, wie eine Fotografie. Dieser Umstand verleitet viele Menschen dazu zu glauben, eine Fotografie wäre ein getreues Abbild der Wirklichkeit. Bereits unsere optische Wahrnehmung erfasst aber bereits nur einen geradezu lächerlich kleinen Teil der vorhandenen elektromagnetischen Wellen – nämlich nur das sichtbare Licht – und die von der Netzhaut unseres Auges ausgehenden Nervenimpulse werden im Gehirn sehr aufwändig verarbeitet. Was wir als Wirklichkeit sehen, ist im Wesentlichen bereits ein Produkt unseres Gehirns und in erster Linie dazu gedacht, dass wir uns in unserer Umwelt orientieren und möglichst schnell und genau für uns wichtige Informationen erfassen können. Schon auf der Ebene unserer Wahrnehmung gibt es also einen großen Unterschied zwischen Wirklichkeit und ihrem Abbild.

Aber selbst die von uns wahrgenommene Wirklichkeit wird von einer Fotografie nicht korrekt wiedergegeben, sondern noch einmal erheblich verfremdet.

Zweidimensionale Welt

Wir haben zwei Augen und können dadurch räumlich sehen. Die normale Fotografie ist aber zweidimensional und diese Reduktion stellt eine erhebliche Abstraktion unserer normalen Wahrnehmung dar. Tatsächlich ist die fehlende räumliche Abbildung die wichtigste Grundlage von Bildgestaltung und Bildkomposition in der Fotografie, denn Räumlichkeit muss jetzt durch Hilfsmittel erzeugt werden. Dazu zählen konvergierende Linien und Fluchtpunkte, erkennbare Unterschiede zwischen Vorder- und Hintergrund, selektive Schärfe und bekannte Größenverhältnisse im Bild.

Aus fünf Linien und zwei Elipsen macht unser Gehirn eine in die Ferne führende Straße mit zwei Bäumen.

Aus fünf Linien und zwei Elipsen macht unser Gehirn eine in die Ferne führende Straße mit zwei Bäumen.

Konvergierende Linien und Fluchtpunkte geben einer Fotografie Tiefe.

Konvergierende Linien und Fluchtpunkte geben einer Fotografie Tiefe.

Wir nehmen die Welt dreidimensional war. Die Fotografie bildet sie zweidimensional ab und suggeriert uns Räumlichkeit durch optische Tricks, die überhaupt nur funktionieren, weil unser Gehirn diese Bildeindrücke entsprechend verarbeitet und daraus die fehlende dritte Dimension rekonstruiert.

Scheuklappen

Die nächste Verfremdung der Wirklichkeit ist der Ausschnitt. Jedes Foto zeigt eben nur einen Teil der Umgebung während der Aufnahme. Durch Weglassen oder Einbeziehen von weiteren Personen, Gegenständen oder Formen kann die Bildaussage sich völlig verändern. Dem Foto kann man später aber nicht mehr ansehen, was jehnseits seines Ausschnittes noch alles vorhanden war. Dem Betrachter werden Scheuklappen angelegt.

Richtige falsche Augenblicke

Als letzte Abstraktion sei der Aufnahmezeitpunkt genannt. Ein Foto ist immer eine Momentaufnahme und wie beim räumlichen Ausschnitt, lässt sich später meist nicht sagen, was vor und was nach dem Augenblick der Aufnahme geschehen ist. Wir alle kennen Fotos von redenden Politikern und je nach dem, welcher Gesichtsausdruck gerade eingefangen wurde, kann die Person uns lächerlich, seriös, unglaubwürdig oder sogar bedrohlich erscheinen – und alle diese Fotos können unter Umständen in nur wenigen aufeinanderfolgenden Augenblicken aufgenommen worden sein.

Eine Fotografie gibt die Sicht des Fotografen wieder

Fotografie ist immer eine Abstraktion der Wirklichkeit. Was wir in einem Foto sehen – oder besser: zu sehen glauben – wird durch die Wahl des Ausschnitts, des Zeitpunkts, des Standorts und der Perspektive bestimmt. Gute Fotografen kennen die Wirkung dieser Parameter und setzen sie gezielt ein, um ihre Sicht der Szene im Foto sichtbar zu machen. Diese Sicht ist immer subjektiv und damit immer eine Wahrheit von vielen möglichen Wahrheiten. Und der Unterschied zwischen guten und schlechten Fotografen besteht nur darin, dass erstere die zur Verfügung stehenden Mittel der Bildgestaltung bewusst und gezielt einsetzen und so schon vor dem Druck auf den Auslöser wissen, wie das Bild später wirken wird.

Fotos wurden schon immer bearbeitet, auch vor dem digitalen Zeitalter

In den Zeiten der analogen Fotografie wurde zunächst ein Negativ belichtet, dieses dann entwickelt, dann mit einem Vergrößerungsgerät auf ein Positiv projiziert und dieses Positiv dann wiederum entwickelt. Erst jetzt hatte man das fertige Foto vor Augen.

Dauer, eingesetzte Chemikalien und Materialien hatten bei der Negativ- und Positiventwicklung entscheidende Auswirkungen auf das Ergebnis. Bei der Belichtung des Positivs konnte durch partielles Abwedeln und Nachbelichten sowie Filtereinsatz genau bestimmt werden, welche Bildpartien wie hell oder dunkel oder in welcher Farbe erscheinen sollten. All das waren keine Manipulationen sondern Teil des fotografischen Handwerks. Es war überhaupt nicht möglich, ein Foto nicht nachträglich zu bearbeiten, denn ohne Entwicklung kein Bild.

Fotos werden immer bearbeitet, ob wir wollen, oder nicht

Für das digitaler Zeitalter gilt das Gleiche: Eine Nichtbearbeitung von Fotos nach der Aufnahme ist nicht möglich. Denn auch bei der digitalen Fotografie muss die elektronische Sensorinformation in ein für unser Auge sichtbares Bild umgewandelt werden. Tatsächlich entsteht der größte Teil der Bildinformation des fertigen Fotos durch Berechnung und Umwandlung. Hinzu kommen ausgefeilte Algorithmen zur Verminderung von Bildrauschen und Verbesserung der Bildschärfe und des Kontrastumfangs.

Wer also einfach das fertige JPEG-Bild aus der Kamera nimmt, hat nicht etwa auf jegliche Bildbearbeitung verzichtet und ein authentisches Original höchster Motivtreue vor Augen – Er hat die komplette Entwicklung der Kamera überlassen, genauer: den Ingenieuren und Softwareentwicklern, die sie konstruiert und gebaut haben. Ein solches Foto entspricht also nicht der Wirklichkeit, sondern ist das, was andere Menschen uns als Wirklichkeit präsentieren wollen. Es ist nicht die eigene Sichtweise, sondern die von anderen.

Die eigene Sichtweise mitteilen

Fotografie ist kein getreues Abbild der Wirklichkeit sondern immer deren Abstraktion und Verfremdung. Fotografie ist eine Kunst. Und Kunst kommt nicht etwa von Können, sondern von Kennen oder besser: Erkennen.

Fotografie bietet die Möglichkeit bestimmte Aspekte und Teile der uns umgebenden Welt herauszuarbeiten, eben weil ein Foto immer nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigt. Unsere visuelle Wahrnehmung ist dabei höchst subtil und immer emotional eingefärbt. Kaum eine Sprache ist so universell und eindringlich wie ein Bild. Ein Bild kann tatsächlich mehr sagen, als tausend Worte – wenn wir auch in der Fotografie eine klare Sprache sprechen. Der Reiz der Fotografie liegt nicht darin, ein möglichst getreues Abbild der Wirklichkeit zu zeigen, sondern im Gegenteil, unsere eigene Sichtweise mitzuteilen. Dazu ist es notwendig – und hier kommt dann doch das Können ins Spiel – möglichst alle gestalterischen und technischen Schritte der Bildentstehung bewusst zu steuern und so auszuführen, dass am Ende die gewünschte Bildwirkung entsteht.

Keine Alternative zur RAW-Entwicklung

Wer fotografisch seine eigene Sichtweise mitteilen möchte, kommt um die RAW-Entwicklung und nachträgliche Ausarbeitung seiner Fotos nicht herum. In RAW-Konvertern, wie Adobe Lightroom, können alle bildbestimmenden technischen Parameter exakt, detailliert und differenziert eingestellt werden. Hier hat der Fotograf die Freiheit, sein Foto so auszuarbeiten, wie er es selbst sehen möchte oder im Moment der Aufnahme gesehen hat. Vorausgesetzt natürlich, er hat auch die Aufnahme selbst bereits entsprechend ausgeführt.

Wer auf diese Möglichkeit verzichtet und irgendwelchen automatischen Prozessen die Bildentwicklung überlässt, sieht am Ende nicht durch die eigenen Augen, sondern durch die von anonymen Ingenieuren und Softwareentwicklern.

Beispiel: RAW-Entwicklung und Ausarbeitung eines Fotos

Das Beispielfoto zeigt einen winterlichen Bachlauf, an dessen Ufern der Frost einige schöne Eisskulpturen gebildet hat. In der Aufnahme sollte der Kontrast zwischen dem weichen, fließenden Wasser und dem harten, starren Eis gezeigt werden. Ein für mich umso interessanterer Gegensatz, da ja auch das Eis aus dem gleichen Wasser besteht, wie der Bach selbst, nur das es eben gefroren ist.

Mit diesem Ziel entschied ich mich schon bei der Aufnahme für eine starke Verfremdung des Motivs: Ich wählte eine Belichtungszeit von 20 Sekunden. Bei einer so langen Zeit werden alle sich bewegenden Bildelemente unscharf und verwischt abgebildet und da das strömende Wasser an den Stufen und Steinen aufschäumt und immer in etwa den gleichen Weg nimmt, zeichnen sich so helle Streifen im Bild ab.

unbearbeitetes Foto direkt aus der Kamera

unbearbeitetes Foto direkt aus der Kamera

Das erste Beispielfoto zeigt nun das Ergebnis, wie es ohne Nachbearbeitung aus der Kamera kommt: Ein recht flaues, farb- und kontrastarmes Foto, indem sich zwar das fließende Wasser schon ganz nett abzeichnet, das insgesamt aber doch eher langweilig ist. Der von mir gesehene Kontrast zwischen fließendem und erstarrtem Wasser jedenfalls, ist hier noch nicht deutlich.

1. Schritt: globale Anpassungen

1. Schritt: globale Anpassungen

1. Schritt: globale Anpassungen

Im ersten Bearbeitungsschritt wurden deshalb von mir der Weißabgleich angepasst, die Gesamtbelichtung reduziert, Lichter und Tiefen abgesenkt und Weiß angehoben. Die Farbbehandlung umfasste eine erhöhte Klarheit, deutlich angehobene Dynamik und eine leicht verstärkte Sättigung. Zusammengenommen wurde dadurch der Kontrast im Bild schon einmal erheblich verbessert.

2. Schritt: Partielle Korrektur des Weißabgleichs

2. Schritt: Partielle Korrektur des Weißabgleichs

2. Schritt: Partielle Korrektur des Weißabgleichs

Während die Sonne direkt in den hinteren Bildbereich scheint, liegt der vordere Teil im Schatten. Dieser Teil ist deshalb zu Blau. Ein simpler Verlauffilter mit verändertem Weißabgleich korrigiert diesen Mangel. Zusätzlich wird noch die Klarheit erhöht, so dass der vordere Bildbereich mit den feineren Strukturen schärfer erscheint.

3. Schritt: Maske zur Abdunklung der Bereiche mit direktem Sonnenlicht

3. Schritt: Maske zur Abdunklung der Bereiche mit direktem Sonnenlicht

3. Schritt: Maske zur Abdunklung der Bereiche mit direktem Sonnenlicht

Der richtige Helligkeitskontrast ist in diesem Foto der Schlüssel zur gewünschten Bildwirkung. Die hellsten Strukturen sollen die Strömungslinien des Wassers und das Eis am Ufer sein. Damit diese möglichst hell erscheinen, müssen alle anderen Bereiche abgedunkelt werden.

Dazu wird nun der gesamte, direkt von der Sonne beschienene Uferbereich in Lightroom maskiert und die Belichtung dort reduziert. Zusätzlich werden noch die Tiefen weiter abgesenkt.

4. Schritt: Maske zur Aufhellung der vorderen Eisstrukturen

4. Schritt: Maske zur Aufhellung der vorderen Eisstrukturen

4. Schritt: Maske zur Aufhellung der vorderen Eisstrukturen

Mit der gleichen Absicht wird nun das Eis im vorderen, linken Bildbereich maskiert. Hier nun werden lediglich die Lichter angehoben und die Tiefen abgesenkt. Im Ergebnis strahlt das Eis viel heller und klarer, ohne an Zeichnung zu verlieren.

5. Schritt: Maske zur Abdunklung des vorderen, linken Ufers

5. Schritt: Maske zur Abdunklung des vorderen, linken Ufers

5. Schritt: Maske zur Abdunklung des vorderen, linken Ufers

Bleibt noch ein kleiner Uferstreifen links vorne, der mir zu hell ist, zumal er direkt neben dem hellen Eis liegt. Maskierung und Reduktion der Belichtung ergeben den gewünschten stärkeren Kontrast zum benachbarten Eis.

Das fertige Bild

Im Ergebnis tritt nun der Kontrast zwischen dem weichen, fließenden Wasser und dem harten, starren Eis deutlich zutage. Angesichts des unbearbeiteten Bildes werden nun sicher manche sagen, dass der Bach so ja überhaupt nicht ausgesehen hat. Das ist aber grundfalsch. Wie gezeigt, gibt es kein objektives Abbild des Baches, das Foto ist immer eine Verfremdung. Jeder der in der Natur an diesem Bach steht, wird letztlich etwas anderes sehen und wahrnehmen. Ich wollte mit dem Foto meine persönliche und subjektive Wahrnehmung ausdrücken und wiedergeben. Jemand anders mag etwas ganz anderes wahrgenommen haben. Ich wäre sehr gespannt und interessiert, welche Sichtweisen noch möglich gewesen wären!

unbearbeitetes Foto direkt aus der Kamera

unbearbeitetes Foto direkt aus der Kamera

Bachlauf mit vereisten Ufern, fließendes Wasser, Niemetal, Löwenhagen, Deutschland - Foto: www.dirkpfuhl.de

Bachlauf mit vereisten Ufern, fließendes Wasser, Niemetal, Löwenhagen, Deutschland – Foto: www.dirkpfuhl.de

Fazit

Kein Foto ist in der Lage die Wirklichkeit objektiv und authentisch abzubilden. Bildgestaltung, Aufnahmezeitpunkt und technische Umsetzung zeigen im fertigen Bild vor allem eins: Die Sichtweise des Fotografen. Wer den gesamten Prozess der Umwandlung des auf den Kamerasensor fallenden Lichts zu einem für uns sichtbaren Bild allein der Kameraelektronik überlässt, verschenkt ein erhebliches Potenzial, die eigene Sichtweise auch im Foto wiederzugeben. RAW-Entwicklung und Ausarbeitung sind für einen ambitionierten Fotografen deshalb unverzichtbar.

 

1. Februar 2017 | Blog, Werkstattbuch | 4.046 views

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